Tuesday, July 19, 2011

... oder warum man besser mit der Familie zum Arzt sollte

Chennai/Madras. So viele Patienten, das kann doch ein Arzt alleine gar nicht schaffen, dachte ich, als ich das erste Mal ein indisches Wartezimmer betrat. "Sie kommen gleich dran", sagte mir die hübsche Sprechstundenhilfe im eleganten Sari. Konnte ich gar nicht glauben, oder wer waren all diese Leute? Bald dämmerte es mir.

Die Patienten waren alle mit Familienanhang gekommen. Vater, Mutter, Großmutter. Ein Junge hatte sogar noch Geschwister mitgebracht. Wurde jemand aufgerufen, verschwand die ganze Verwandschaft in dem sehr kleinen Zimmer des Arztes. Ob dort nur einer das Wort führte oder ob alle über das Befinden des Patienten Auskunft gaben, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Jedenfalls war ich etwas beruhigt. Nach meiner Rechnung waren es also noch zwei weitere Familien, die vor mir dran waren.

Ein wenig neugierig wurde ich von denen schon beäugt. Nicht nur deshalb, weil ich die einzige Europäerin im Wartezimmer war, sondern wahrscheinlich auch, weil ich ganz alleine da war.

Na gut, dachte ich, und kam mir sehr vernünftig vor, so ganz ohne Anhang beim Arzt. Bei uns Deutschen ist das eben anders, wir stehen da doch drüber, dachte ich.

Bis zu dem Tag an dem ich in die Röhre musste. MRT, Magnetresonanzthomographie. Mein Oberarm tat weh und er sollte untersucht werden. Die Praxis mitten in Chennai  war sehr modern. Der Apparat von Siemens. "German Technology", erklärte der Arzt stolz. Recht vertrauenserweckend, fand ich und lege mich auf die Liege.

Der Arzt fixiert meinen Arm. German Technology, denke ich, und warte auf das Kommende. Mein erstes Mal in der Röhre. Und dann passiert es. Nach einigen Minuten befällt mich Panik. Das laute Geräusch - ist das denn normal? Eigentlich leide ich nicht an Klaustrophobie - oder doch? Ich öffne die Augen. Nur grelles weißes Licht. Die Panik wird zur Todesangst. Ich reiße die Fixierung von meinem Arm und springe raus.

Sofort sind die beiden Ärzte bei mir und sehr verständnisvoll. Irgendwie ist mir das dann peinlich, dass ich so überreagiert habe. Ausgerechnet ich cooler Westler! Ich will da nicht mehr rein, flüstere ich. Aber bald haben mich die Ärzte beruhigt und einer verspricht mir, dass er mit mir in den Aufnahmeraum kommt und die ganze Zeit dabei sein wird.

Mit Ach und Krach schaffe ich es und bin dem Arzt unendlich dankbar, dass er mir gut zugeredet hat.
Wie gerne hätte ich in dieser Situation jemanden von meiner Familie dabeigehabt!

Die muslimische ältere Dame, die anschließend in die Röhre geschoben wird, kommt dagegen ganz entspannt wieder heraus. Sie hat ja auch ihre Schwester dabeigehabt, die die ganze Zeit ihre Hand gehalten hat.

Text: Senya Müller 
Foto: Primavera e.V.